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Über eine Schwermut, die nicht die eigene ist.

März 10, 2022

Ich verstehe das nicht – eigentlich ist doch alles gut!



Objektiv betrachtet ist das Leben in Ordnung. Die Wohnung hat einen Balkon und ist gemütlich, die Partnerschaft läuft oder das Alleinleben fühlt sich richtig an, der Hund ist gesund, die Kinder auch, Geld zum Leben ist da, Reisen sind wieder möglich. Manchmal nerven die Eltern und die Kolleg:innen, aber im Großen und Ganzen ist alles okay.

 

So beschreiben es mir viele Menschen der Generation Kriegsenkel. Trotzdem kommt es bei einigen immer wieder zu schwermütigen oder depressiven Phasen. Bei manchen will sich die dunkle Wolke seit Jahren gar nicht mehr verziehen. Wie kommt das, wenn doch eigentlich kein erkennbarer Auslöser, keine wirkliche Belastung vorliegt?

 

Es gibt Familien, in denen sich Depressionen über Generationen ziehen und man geht davon aus: Ist halt geerbt, liegt in der Familie. Depressionen können tatsächlich genetische Ursachen haben. Eine erbliche Vorbelastung trägt nach dem heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu ihrer Entstehung bei. Denn sie treten familiär gehäuft auf. Aber ist das die einzige Erklärung dafür?

 

In der Genogrammarbeit erlebe ich bei meinen Kund:innen immer wieder, dass sich der Beginn der depressiven Phase zumindest grob datieren lässt. Und wir können in der Erforschung der familiären Verbindungen dann häufig aufdecken, dass ein Eltern- oder Großelternteil in jenem Alter, in dem die Schwermut oder Depression bei den Nachfahren aufgetreten ist, ein unbearbeitetes, schwer belastendes Ereignis erlebt hat.

 

Der 2. Weltkrieg, die Nazizeit, der Holocaust, Flucht und Vertreibung haben die allermeisten Menschen traumatisiert. Die meisten Betroffenen hatten keinerlei Gelegenheit, diese Erlebnisse zu verarbeiten. Sehr oft wurden verlorene Kinder oder Geschwister nicht wirklich betrauert, verdrängte man die Erinnerung an das Leid, den Hunger oder die Angst. Eine therapeutische Bearbeitung fand so gut wie nie statt.

 

Lange Zeit verschwiegene Gräuel hallen in den Nachfahren nach. Dazu gehören Vergewaltigungen, für die sich die Frauen oft ein Leben lang schämten. War eine Frau also beim Erleben sexualisierter Gewalt vielleicht 15 Jahre alt und trat bei der Tochter in diesem Alter eine Depression auf, dann können wir von einem Zusammenhang sprechen, den zu diesem Zeitpunkt vermutlich niemand bemerkt hat. Die Symptome wurden Schulproblemen zugeordnet, der Pubertät, einem Liebeskummer.

 

Der entscheidende Unterschied in der Bewertung besteht aber darin, dass entwicklungsbedingte Probleme mit einem inneren Wachstum, einer Reifung einhergehen – Depressionen eher nicht. Sie verhindern sogar mitunter die nötige Abnabelung von den Eltern, die Individuation, das Erwachsenwerden.

 

Wenn ich hier ein Beispiel beschreibe, das Frauen betrifft, so gilt das Gleiche natürlich für Männer. Für sie vielleicht sogar noch mehr, weil Männer früherer Generationen noch weniger die Möglichkeit hatten, Gefühle zuzulassen, sie zu zeigen oder über sie zu sprechen. Wenn ein Junge von 12 Jahren seine bewunderten älteren Brüder im Krieg verliert und zugleich vom Familiensystem die ganze Verantwortung als nunmehr ältester Sohn aufgebürdet bekommt, kann er daran innerlich zerbrechen. Und seine Nachkommen haben es schwer. Auf sie legt sich die Trauer wie eine Decke. Sie arbeiten sich ab, wollen gesehen und anerkannt werden, aber es reicht einfach nie. Depressionen können die Folge sein.

 

Man kann in Fällen wie diesen zumindest vermuten, dass es sich um eine Reaktion auf eine unbewusst übernommene „Arbeit“, um eine nicht erledigte Trauerarbeit handelt. Sie kann sich zu einer schier untragbaren Last für das eigene Leben auswachsen und die Kraft und Lebensfreude gewaltig ausbremsen.

 

Manchmal löst sich die Schwermut ein wenig auf, wenn der oder die eigentliche Protagonist:in der Geschichte verstirbt. Darauf kann und sollte man natürlich nicht hoffen, denn in der Regel handelt es sich ja um geliebte Verwandte. Und Entlastung ist natürlich auch vorher bereits möglich: Aus dem Wissen darum, dass es nicht die eigene Betroffenheit ist, sondern eine transgenerationale Weitergabe, können wir uns dem auslösenden Ereignis mit Mitgefühl zuwenden, das Ereignis symbolisch zurückgeben, den „Job kündigen“. Wir können aufhören, diese Last, die nicht unsere ist, herumzutragen. Auf diese Weise kann sich die Bremse lösen.

 

Auf diesem Weg ist eine unterstützende Begleitung hilfreich. Es kann sich wie Verrat anfühlen, angesichts des schweren Leides der Vorfahren in ein leichtes und fröhliches Leben zu starten. Das Familiensystem ist ein starker Halt, im Guten wie im Hinderlichen. Es lässt nicht so gerne los, lässt Änderungen nicht gerne zu. Dafür können wir nur selbst sorgen. Und dabei ist jede Hilfe und Ermutigung willkommen.

 

Klinische Depressionen sollten auf jeden Fall therapeutisch behandelt werden. Die Genogrammarbeit kann aber helfen, jene alten Verstrickungen aufzudecken, die Schwermut und Depressionen ausgelöst oder begünstigt haben. Das Wissen darum ist ein erster Schritt auf dem Weg heraus aus dem Dunkel. Ein Schritt in Richtung Leichtigkeit. Denn sie ist unsere wahre Natur.

 

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